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Die Einsatzsituationen in Bahn- und Strassentunneln unterscheiden sich fundamental

2014 beauftragten die schweizerischen Eisenbahn-Infrastrukturbetreiber die International Fire Academy in Balsthal (CH), eine Feuerwehr-Einsatzlehre für Brandereignisse in Bahntunneln zu entwickeln. Auf den ersten Blick eine einfache Aufgabe. Denn mit ihrer Einsatzlehre für Strassentunnel hatte die International Fire Academy bereits die wesentlichen Grundlagen geschaffen. Die erste Erkenntnis in dem letztlich vierjährigen Entwicklungsprozess war jedoch: Die Einsatzbedingungen in Bahntunneln unterscheiden sich fundamental von denen in Strassentunneln.

Kein Einsatz ohne Erlaubnis


Strassentunnel sind für Feuerwehren vertrautes Terrain, auf dem sie selbständig operieren können. Meist können sie mit ihren Einsatzfahrzeugen direkt in den Tunnel einfahren, um Fahrzeugbrände zu löschen und Menschen zu suchen und zu retten. Anders bei Bahntunneln:  Viele Portale sind nur schwierig oder gar nicht mit Feuerwehr-Strassenfahrzeugen zu erreichen. Nur in Ausnahmefällen haben Bahntunnel feste Fahrbahnen, die mit gummibereiften Fahrzeugen befahren werden können. Deshalb müssen die Einsatzkräfte in den allermeisten Fällen entweder mit Lösch- und Rettungszügen, Zweiwegefahrzeugen mit Strassen- und Schienenrädern oder zu Fuss in die Tunnel eindringen. Das aber dürfen sie erst, wenn der Fahrbetrieb eingestellt ist und die Fahrleitungen ausgeschaltet und beidseitig der Einsatzstelle geerdet sind.

Kurzum: In Strassentunneln operiert die Feuerwehr autonom. Bei Bahntunneln heisst es hingegen zunächst einmal abzuwarten, bis das Bahnunternehmen sichere Einsatzbedingungen geschaffen und die Erlaubnis zum Arbeiten im Gleisbereich erteilt hat. Eine Erlaubnis einholen zu müssen, um löschen zu können? Für viele Feuerwehrleute ist das schwierig zu akzeptieren.

Von der Autonomie zur Kooperation

Zu Beginn des Projektes hofften viele Beteiligte noch, man könne Feuerwehrangehörigen so viel Bahnwissen beibringen, dass sie auf Bahnanlagen selbständig tätig werden können. Diese Vorstellung musste schnell aufgegeben werden. Nicht einmal erfahrene Bahnmitarbeitende kämen auf die Idee, ohne Abstimmung mit ihrer Betriebszentrale in einen Bahntunnel hineinzugehen. Folgerichtig mussten Bahn-Fachleute von Beginn an in das Projekt einbezogen werden.

Entwickelt werden die Einsatzlehren an der International Fire Academy von deren Didaktik- und Entwicklungsteam (DET), das sich überwiegend aus erfahrenen Feuerwehr-Führungskräften zusammensetzt. Für das Bahnprojekt verstärkte sich das DET mit Fachleuten von schweizerischen Bahnunternehmen, Bahnfeuerwehren und Aufsichtsbehörden. Das wichtigste Ergebnis der vierjährigen Entwicklungsarbeit: Auf Bahnanlagen werden öffentliche Feuerwehren grundsätzlich nur in engster Zusammenarbeit mit Vertretern der Bahnunternehmen tätig.

Rettungsgasse auf Schienen?


Auf der Strasse haben die Verkehrsteilnehmer für Einsatzfahrzeuge eine Rettungsgasse zu bilden. Wie aber kommt ein Lösch- und Rettungszug zu seiner Rettungsgasse auf der Schiene? Man kann die im Weg befindlichen Züge ja nicht neben das Gleis stellen? Mit einigem Staunen erfuhren die Feuerwehrleute des DET von ihren Bahnkollegen, dass ein Lösch- und Rettungszug (LRZ) trotz aller gebotenen Eile nicht «einfach mal losfährt», sondern zunächst eine schriftliche Fahrordnung braucht. Diese wird von der Betriebszentrale erstellt, indem sie dem LRZ eine Zugnummer gibt, computergestützt den schnellsten Fahrweg ermittelt, die im Weg befindlichen Züge auf Nebengleise steuert und dem LRZ somit freie Bahn verschafft. Für auf Schnelligkeit getrimmte Feuerwehrangehörige eine schier unerträgliche Vorstellung.

Ist der LRZ jedoch erst einmal an der Einsatzstelle eingetroffen, steht ein mächtiges Einsatzmittel mit je nach Typ bis zu 52.000 Litern Wasser und zwei Millionen Litern komprimierter Atemluft zur Verfügung. Eine von vielen Erkenntnisse des gemeinsamen Entwicklungsprozesses war also: Bahnverkehr ist anders zu denken als Strassenverkehr. Vieles geht langsamer und ist komplizierter, dafür aber grösser und mächtiger.

Ungewohnte Dimensionen


Viele Unterschiede zwischen der Strassen- und der Bahnwelt ergeben sich allein schon aus den Dimensionen. Standard-Strassenfahrzeuge sind maximal 18 Meter lang und befördern bis zu etwa 70 Personen. Ein Reisezug kann bis zu 400 Meter lang sein und bis zu 1.200 Personen an Bord haben. Güterzüge erreichen heutzutage Längen bis zu 750 Meter und könnten schon bald noch länger werden. Um einen Zug herumzugehen, ist also eine völlig andere Aufgabe, als das Umfeld eines Strassenfahrzeuges zu erkunden.

Eine besondere Herausforderung sind die grossen Eindringtiefen von Bahntunneln. Eindringtiefe meint den Weg von einem gesicherten Bereich, zum Beispiel einem Notausgang, bis zum Arbeitsort der Feuerwehr. Die maximal erforderlichen Eindringtiefen ergeben sich in einem Tunnel aus dem jeweils grössten Abstand zwischen zwei Notausgängen. Sie betragen bei Strassentunneln je nach nationaler Auslegung der europäischen Tunnelrichtline höchstens 500 Meter. Diese Distanz kann von Feuerwehr-Einsatzkräften unter Atemschutz gerade noch bewältigt werden.

In vielen älteren Bahntunnel gibt es (ausser den Portalen) keine Notausgänge. Die erforderlichen Eindringtiefen können deshalb mehreren Kilometer betragen, was Einsatzkräfte keinesfalls zu Fuss leisten können; dafür genügen weder der Luftvorrat der Atemschutzgeräte noch die körperliche Kraft. Eindringtiefen von mehr als etwa 500 Metern sind deshalb nur mit Fahrzeugen zu erzielen, die selbst über einen gesicherten Raum verfügen, zum Beispiel mit einem LRZ.

Einsatzgrenzen kennen und akzeptieren


Eines der wertvollsten Ergebnisse des Projektes dürfte die gemeinsame Einsicht sein, dass den Feuerwehren Einsatzgrenzen gesetzt sind – und dass diese akzeptiert werden müssen. Diese beginnen bereits bei einem Ereignis auf der freien Strecke beim Thema Erdung. Verunglückt ein Zug auf einer elektrifizierten Strecke, besteht Im Inneren des Zuges meist keine Stromschlaggefahr, weil der Zug einen Faraday’schen Käfig darstellt. Die Aussenhaut des Zuges kann aber durch heruntergerissene Fahrleitungen unter elektrischer Spannung stehen, was Lebensgefahr für die Einsatzkräfte bedeutet, falls sie den Zug berühren.

Es kann also sein, dass Verletzte im Zug vor Schmerzen schreien oder um Hilfe rufen, die Einsatzkräfte aber zunächst nicht helfen können, weil sie abwarten müssen, bis die Gefahren der Elektrizität durch das Bahnunternehmen beseitigt sind. Für Einsatzkräfte ist das seelisch schwer auszuhalten. Deshalb besteht die Gefahr, dass einzelne Einsatzkräfte in ihrer ethischen Not doch zu helfen versuchen.

Natürlich sollten die Führungskräfte dies verhindern. Aber ein Einsatzleiter oder Abschnittsleiter vermag kaum eine mehrere hundert Meter lange Einsatzstelle jederzeit vollständig zu überblicken. Folglich sollten alle Einsatzkräfte, die möglicherweise auf Bahnanlagen zum Einsatz kommen, entsprechend geschult werden. Sie sollten wissen, dass und warum sie in eine Situation kommen können, in der sie – zunächst – nicht helfen dürfen.

Soll die Feuerwehr erden?


Viel Zeit verwendete das DET auf die Frage, ob die Feuerwehren selbst erden sollten. Dann müssten sie nicht abwarten, bis ein Fachmann des Bahnunternehmens an der Einsatzstelle eingetroffen ist und die Erdung vorgenommen hat. Grundsätzlich könnten Feuerwehrangehörige für diese Aufgabe ausgebildet werden. Die Ausbildungslast der kommunalen und insbesondere der Freiwilligen Feuerwehren wird jedoch bereits heute allgemein als zu hoch wahrgenommen. Es kommt hinzu, dass das Erden je nach Situation eine sehr schwierige und gefährliche Aufgabe sein kann, etwa in Rangierbahnhöfen mit einer Vielzahl von Fahrleitungen. Deshalb überwog die Meinung, das Erden solle Aufgabe der Bahnunternehmen bleiben.

Selbstverständlich könnte das Erden auch anders organisiert werden. Entscheidend ist jedoch, so das Ergebnis der langen Diskussionen im DET, dass solche Fragen gemeinsam von Bahn und Feuerwehr – wie dann auch immer – entschieden werden müssen und dies in jedem Fall Konsequenzen für die Ausbildung und die Ausstattung der Feuerwehren hat. Ganz wichtig war in dieser Diskussion der Konsens: Alle Akteure müssen wissen, was sie selbst und die anderen jeweils leisten können und was nicht. Ansonsten besteht die grosse Gefahr gegenseitiger Erwartungen, die nicht erfüllt werden können.

Besondere Herausforderungen von Bahntunneln


Für Strassentunnel hat die International Fire Academy die mittlerweile von den meisten Feuerwehren praktizierte Taktik «Löschen um zu retten» entwickelt. Oberste Priorität hat demnach die Brandbekämpfung. Je schneller der Fahrzeugbrand gelöscht wird, desto weniger Rauch wird produziert, desto weniger lang werden Tunnelnutzer dem Rauch ausgesetzt und desto früher werden gute Bedingungen für die Selbst- und Fremdrettung geschaffen. Diese Taktik kann praktisch gut umgesetzt werden, weil bei Bränden in Strassentunneln dank deren stationärer Lüftung eine wenig oder gar nicht verrauchte Anströmseite entsteht, auf der die Feuerwehren schnell zum Brandort vordringen können.

Bei Bränden von Schienenfahrzeugen in einem Bahntunnel entsteht zunächst ebenfalls eine Anströmseite, weshalb auch hier die Taktik «Löschen um zu retten» als beste Option gesehen wird. Im Unterschied zu Strassentunneln sind die meisten Bahntunnel jedoch nicht mit einer Lüftungsanlage ausgestattet. Deshalb kann die Strömungsrichtung, beispielsweise bereits infolge geringer wetterbedingter Luftdruckschwankungen auf den Portalseiten, umkehren. Dann wird die Anströmseite zur Abströmseite, und die Einsatzkräfte stehen möglicherweise plötzlich im dichten Rauch. Die Konsequenz: Erstens müssen die Einsatzkräfte auch auf der Anströmseite mit Atemschutzgeräten ausgestattet sei. Zweitens dürfen sie nicht weiter als ungefähr 1.000 Meter eindringen, damit ihr Atemluftvorrat sicher für einen Rückzug durch den Rauch ausreicht.

Die aus diesen Überlegungen abgeleiteten Standard-Einsatzregeln sind eines von vielen Beispielen für Ergebnisse, die nur dank der intensiven Zusammenarbeit von Feuerwehr- und Bahnleuten erzielt werden konnten; das Problem der plötzlichen Rauchumkehr in Bahntunnel war den meisten Feuerwehrangehörigen zuvor gar nicht bewusst.

Systemimmanenter Erfahrungsmangel


Sollen die Passagiere eines in einem Tunnel stehenden brennenden Zuges sofort evakuiert werden oder zunächst im Zug verbleiben? Zum Glück sind Zugbrände so selten, dass es kaum Erfahrungswerte gibt, aus denen sich generische Regeln ableiten liessen. Um diesen Erfahrungsmangel zu kompensieren, müssen Szenarien erdacht werden, anhand derer Vor- und Nachteile taktischer Optionen gegeneinander abgewogen werden können. Das müssen Bahnunternehmen und Feuerwehren gemeinsam tun, weil sie sonst von unterschiedlichen und teils inkompatiblen Annahmen ausgehen.

Deshalb beschränkt sich die Bahntunnel-Einsatzlehre der International Fire Academy nicht auf grundsätzliche Taktiken. Sie beinhaltet all jene Hintergrundinformationen, die sowohl Feuerwehren als auch Bahnunternehmen benötigen, um zu einer gemeinsamen Sprache, zu einer gemeinsamen Sicht und zu allseits akzeptierbaren Lösungen zu finden – oder um gemeinsam die Leistungsgrenzen der Feuerwehren zu akzeptieren. Damit stellt die Einsatzlehre nicht nur das Ergebnis des gemeinsamen Entwicklungsprozesses dar, sondern sie bietet Unterstützung, um diesen Prozess in der Praxis fortzusetzen. Hierzu gibt es beispielsweise umfangreiche Checklisten mit allen Fragen, die Feuerwehren und Bahnunternehmen gemeinsam klären müssen, um sich bestmöglich auf Brandeinsätze in Bahntunneln vorzubereiten.

Im Fachbuch «Brandeinsätze in Bahntunneln» wurde die gesamte Lehre mit zahlreichen Fotos und Grafiken aufbereitet. Das Buch kann als Grundlage für die Zusammenarbeit von Feuerwehren und Bahnunternehmen genutzt werden. Informationen dazu sind auf der Übersichtsseite zu unseren Publikationen abrufbar.

 

Dieser Beitrag wurde für die Fachzeitschrift Crisis Prevention erstellt und in Ausgabe 1/2021 (Seiten 52–55) erstveröffentlicht.