Löschangriff in einem Übungstunnel mit zwei brennenden LKW

Vom Grossbrand im Gotthard Strassentunnel 2001 zur Zuversicht im Einsatz bei Tunnelbränden

Nach den Grossbränden in Strassentunneln 1999 herrschte die Meinung vor, dass Feuerwehren bei Tunnelbränden kaum etwas ausrichten können. Heute sehen sich die meisten Feuerwehren für diese Aufgabe gut gerüstet. Urs Kummer, Geschäftsführer der International Fire Academy, und Christian Brauner, Leiter des Didaktik- und Entwicklungsteams, zeichnen die Entwicklung seit 2001 nach.

Der Start des Tunnelprojekts am Tag des Grossbrands


Wenn man 20 Jahre zurückblickt, wie war damals in Balsthal die Situation unmittelbar vor dem Brandereignis im Gotthard Strassentunnel?

Urs Kummer: Nach den Bränden in den Strassentunneln des Mont Blanc und des Tauern war vielen Feuerwehrverantwortlichen klar, dass auch sie jederzeit mit einem Brandereignis in einem Tunnel konfrontiert sein könnten. Entsprechend machten sich die kantonalen Feuerwehrinspektorate Gedanken, wie man sich auf solche Ereignisse besser vorbereiten könnte. Und auch das schweizerische Bundesamt für Strassen (ASTRA) setzte frühzeitig eine Task Force ein, um die Sicherheit in ihren Tunneln zu analysieren und in der Folge zu erhöhen. Bereits im Mai 2000 hielt die Task Force fest: Es braucht eine Übungstunnelanlage für Einsatzkräfte. Dieser Bericht war der Auslöser für unser Tunnel-Projekt.

Christian Brauner: Treibende Kraft des Tunnelprojektes war Bernhard Fröhlich, Direktor der Basellandschaftlichen Gebäudeversicherung. Unter seiner Leitung fand im Interkantonalen Feuerwehr-Ausbildungszentrum die Kick-off-Sitzung für das Tunnelprojekt statt: zufällig am 24. Oktober 2001 um 14 Uhr – wenige Stunden nach dem Brand im Gotthard Strassentunnel.

Wie wurde das Brandereignis damals aufgenommen?

Christian Brauner: Bereits eine Woche nach dem Ereignis ermöglichte das ASTRA der Projektgruppe, die Einsatzstelle zu besichtigen und mit Einsatzkräften zu sprechen. Daraus entstanden enge Kontakte, die später mit der Schadenwehr Gotthard fortgeführt wurden. Das Ereignis haben wir schliesslich in einer Case Study für die Führungskräfte-Ausbildung aufgearbeitet. Die Bilder und Details von damals machen noch heute die Dramatik des Ereignisses unmittelbar spürbar.

Recherchen für die Konzeption des Übungstunnels


Was waren die nächsten Schritte?

Christian Brauner: Wir suchten den intensiven Austausch mit vielen Feuerwehren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich.

Urs Kummer: Schon damals bestand ein enger Kontakt zur Landesfeuerwehrschule in Baden-Württemberg. Mit ihr haben wir 2009 auch den ersten internationalen Pilotkurs auf unserer Übungstunnelanlage in Balsthal durchgeführt. Bis dahin war es aber 2001 noch ein weiter Weg.

Christian Brauner: Nicht nur organisatorisch, auch inhaltlich lag noch vieles vor uns. Anfang 2002 überwog die Meinung: In einem Tunnel mit mehr als 400 m Länge kann die Feuerwehr im Prinzip nichts ausrichten. Damit war gegeben, dass wir neue Taktiken und Techniken entwickeln mussten. Aber zunächst hatten wir uns darauf konzentriert: Wie soll der Übungstunnel aussehen? Welche Szenarien benötigen wir?

Wie sah die Entwicklungsarbeit für den Übungstunnel konkret aus?

Christian Brauner: Zunächst werteten wir Einsätze aus. Wir sprachen mit den wenigen Kameraden, die bereits Erfahrung mit Tunneleinsätzen hatten. Die wesentliche Erkenntnis: Baut eine Übungsanlage, in der Feuerwehren am konkreten Objekt unter einsatznahen Bedingungen die Herausforderung Tunnelbrand erleben können.

Urs Kummer: 2005 gab es dann den offiziellen Startschuss: Das ASTRA beauftragte das Interkantonale Feuerwehr-Ausbildungszentrum, die Übungsanlagen in Balsthal und Lungern zu realisieren, eine Einsatzlehre zu entwickeln und die Ausbildungen anzubieten.

Christian Brauner: Damals rief Bernhard Fröhlich das Didaktik- und Entwicklungsteam (DET) ins Leben. Zunächst ging es um technische Fragen. Wir wollten zum Üben echte LKW abbrennen und suchten mit Spezialfirmen für Rauchgas-Waschanlagen in Sondermüllverbrennungsanlagen eine umweltverträgliche Lösung. Doch die sagten, sie könnten uns keine Garantie geben, dass eine solche Anlage bei uns funktioniert. Und zwar weil wir exakt das tun würden, was bei Müllverbrennungsanlagen genau nicht passieren darf: Die Temperatur reduzieren und alles nass machen. Damit hätten wir das Maximum an Schadstoffen produziert mit der Folge einer starken Kontamination der Anlage.

Urs Kummer: Es gab also vieles, was gegen Echtbrand sprach: Die Umweltbelastung, die Gefährdung der Sicherheit der Einsatzkräfte beim Üben, die Kosten für eine spezielle Lüftungsanlage, um den Tunnel bei Bedarf schnell entrauchen zu können, der grosse Einrichtungs- und Entsorgungsaufwand vor bzw. nach jeder Übung und so weiter.

Christian Brauner: Entscheidend war schliesslich: Wir wollten, um einen hohen Lerneffekt zu erzielen, genau definierte, replizierbare Einsatzbedingungen. Das kann man nur mit Gasbrandstellen erreichen. Gleichzeitig sollten die Anlagen möglichst nah an der Realität sein. Hier neben mir stehen noch sechs dicke Ordner voll mit Brandversuchen, die wir ausgewertet hatten. Das erste didaktische Konzept war eine durch und durch wissenschaftliche Arbeit. Alles physikalisch und chemisch fundiert. Also mit vielen Überlegungen und Belegen. Das Ergebnis sind die Übungstunnelanlagen, wie wir sie heute betreiben.

Urs Kummer: Was Christian gerade angesprochen hat, begleitet uns noch heute: Du hast einen Berg von Informationen und musst genau jene extrahieren, die für den Einsatz im Tunnel relevant sind. Die wesentlichen Erkenntnisse aus dieser ersten Phase haben wir nicht nur in unsere Übungstunnelanlagen einfliessen lassen, sondern später auch in unserem ersten Fachbuch «Brandeinsätze in Strassentunneln» auf wenige Seiten komprimiert unter dem Stichwort Einsatzbedingungen dokumentiert.

Von grosser Skepsis zu einem einheitlichen Vorgehen


Mit den Anlagen waren die Probleme noch nicht gelöst. Was fehlte?

Christian Brauner: In Berichten über wissenschaftliche Brandversuche in Tunneln war stets von Temperaturen weit über 1000 °C die Rede. Das passte nicht zu den Erfahrungen der Feuerwehren. Deshalb schauten wir uns die Bilder vom Gotthard-Ereignis nochmals richtig an. In den Medien gab es immer nur das eine Bild mit dem Ausschnitt der beiden brennenden LKW. Dass da auch Leute standen und diesem Höllenfeuer zuschauten, das haben viele bis heute nicht wahrgenommen.

Daraus entstand die zentrale Unterscheidung zwischen Anström- und Abströmseite. Wie kam es zur Taktik?

Christian Brauner: Ja. Da gab es diesen einen Moment in der Entwicklungsarbeit. Wir hatten schon ewig an dem Thema herumgemacht. Plötzlich kam dieser Ausruf: «Leute, ganz einfach: Reingehen, zack, zack, also rein auf der Anströmseite und ausmachen. Das ist die Lösung!» Werner Stampfli brachte es auf den Punkt. Und es war die Lösung. Der zweite Schritt war dann, dies zur Taktik «Löschen um zu retten» weiterzuentwickeln.

Urs Kummer: Das klingt jetzt vielleicht so, als hätte man die Lehre in ein paar Sitzungen entwickelt. Ich erinnere mich aber genauso gut an Situationen, in denen wir erst alle dachten: «Das funktioniert; jetzt haben wir wieder einen Punkt geklärt.» Und beim kurzen Innehalten gab es dann oft doch noch ein DET-Mitglied, das einwarf: «Ich hätte da noch eine Frage …». Alle haben sich danach erstmal angeguckt, und es war jeweils sofort klar: Das Problem ist doch noch nicht gelöst. So war es viele Male, und das war wertvoll, denn so konnten alle DET-Mitglieder sowie zahlreiche externe Experten mit ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und Fragen aktiv zur Entwicklung der Lehre beigetragen. Was diese bedeutet, kann man vielleicht daran ablesen, dass im DET stets nur im Konsens aller Mitglieder entschieden wurde und auch noch heute wird – und das waren teils bis zu 18 gestandene Experten. Nur durch diesen oft auch anstrengenden Prozess war es letztlich möglich, eine überzeugende Tunnel-Einsatzlehre zu entwickeln und zu formulieren.

Christian Brauner: Am Anfang herrschte in der Feuerwehrwelt grosse Skepsis, ob man eine solche Einsatzlehre überhaupt braucht und ob man erreichen kann, was wir erreichen wollten. Heute ist dies eine Selbstverständlichkeit. Doch auf dem Weg war viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch dazu haben die DET-Mitglieder, besonders die kantonalen Feuerwehrinspektoren, wesentlich beigetragen.

Was hat damals die Akzeptanz der Lösungsansätze in der Feuerwehrwelt gefördert?

Urs Kummer: Im DET legen wir stets grossen Wert darauf, dass möglichst viel von dem, was in unterirdischen Verkehrsanlagen zu leisten ist, mit den üblichen Einsatzmitteln geleistet werden kann. Es gibt nur ganz wenige Ausnahmen, etwa Hilfsmittel wie Markierleuchten, Suchstöcke und Schleifkorbtragen mit Rollen.

Christian Brauner: Ziel war, dass alles, was wir entwickeln – wie Taktiken, Techniken und Verfahren –, möglichst nahtlos in das bestehende Feuerwehrsystem eingefügt werden kann.

Urs Kummer: In der Schweiz waren zwei andere Aspekte ebenfalls entscheidend für die durchgängige Akzeptanz: Die Überzeugungsarbeit der DET-Mitglieder und dass die Schweizerischen Feuerwehrinspektorenkonferenz (SFIK) je Region einen Feuerwehrinspektor offiziell ins DET entsandte. Im Prinzip galt ab diesem Zeitpunkt: Wenn die im DET sagen, es ist okay, dann hat es Hand und Fuss. Wir haben die Einsatzlehren für Strassen- und Bahntunnel natürlich dennoch zur Genehmigung an die SFIK-Plenarversammlung eingereicht, damit sie offiziell anerkannt wurden.

Der Übungstunnel als Testlabor für Taktik und Techniken


Als die Übungstunnelanlagen 2009 soweit fertiggestellt war, war auch die Taktik entwickelt. Wie ging es weiter?

Urs Kummer: Der Tunnel war zunächst unser Labor, in dem überprüft wurde, ob funktioniert, was wir ausbaldowert hatten. Das war Aufgabe unseres ersten Instruktorenteams, welches wir aufgebaut hatten. Denn im DET hätten wir zwar diskutieren können, was es zum Beispiel bedeutet, jemanden über eine lange Strecke zu tragen. Aber wie man sich dabei fühlt, das muss man ausprobieren. Bei der Umsetzung in die Praxis zeigte sich als eines der ersten Probleme, dass eine Rückwegsicherung mittels Leine dazu führt, dass die Leine an den Fahrzeugen hängenbleibt. Daraus entstand die Technik, dass im Tunnel – und nur im Tunnel – die Wand die Rückwegsicherung ist, weil sie stets zu einem Ausgang führt.

Christian Brauner: Wir haben auch überlegt, wie wir abgesuchte Fahrzeuge kennzeichnen. Es gab mal die Idee, in den Lack ein Kreuz zu ritzen. Aber so etwas geht natürlich nicht. Bänder an Scheibenwischern zu befestigen, war auch keine gute Idee, weil zu zeitaufwändig. Wir experimentierten dann mit Knicklichtern und Laserstrahlen. Schliesslich kamen wir auf die Markierleuchten.

Urs Kummer: Die haben wir dann im Piottino Tunnel getestet. Also: Wohnmobil angezündet und geschaut, ob man die Leuchten auch im schwarzen Rauch sieht. Mit dem Ergebnis: Die Blauen sieht man am besten, und alle sind in Bodennähe bei vernünftiger Distanz noch sichtbar. So haben wir 2009 noch weitere Techniken entwickelt, etwa die Schleifkorbtragen mit Rollen und den Suchstock.

Herausforderungen für die künftige Entwicklungsarbeit


20 Jahre nach dem Brandereignis im Gotthard Strassentunnel – was sind die nächsten Herausforderungen?

Urs Kummer: Zum Glück sind Einsätze in Strassentunneln weiterhin nicht allzu häufig. Es gibt jährlich zwar einige kleinere Ereignisse und vielleicht zwei bis drei grössere Ereignisse – also mit direkter Gefährdung von Personen –, aber der praktische Erfahrungszugewinn aus Einsätzen ist eher gering. Umso wichtiger sind Ausbildung und fortwährendes Training. Die generelle Rückmeldung von Feuerwehren über die Jahre zu dem bei uns Gelernten lautet: Die Taktik funktioniert, die Techniken funktionieren, und was sie im Einsatz erleben, entspricht dem, was sie aufgrund ihrer Ausbildung erwartet haben. Fazit: Feuerwehren sind mit der richtigen Ausbildung in der Lage, bei einem Brandereignis in einem Tunnel erfolgreich und sicher zu operieren. Damit sind wir unserer Vision «Mit Zuversicht in den Tunnel-Einsatz» schon bereits sehr nahe. Aber natürlich gibt es immer noch Herausforderungen.

Christian Brauner: Ein Thema, für das wir noch keine Lösung haben, ist die technische Kommunikation. Im Strassentunnel ist es durch die Lüftung extrem laut. Man hat einfach keine Chance, sich so wie in einem anderen Einsatz zu verständigen. Eventuell ist nonverbale Kommunikation ein Lösungsansatz. Ein weiteres Thema ist die nachhaltige Ausbildung in dem Sinn, dass die Feuerwehrleute das, was sie gelernt haben, auch behalten und verinnerlichen. Durch das praktische Tun, also durch unsere Erfahrungsdidaktik, bewirken wir sicherlich relativ viel. Aus meiner Sicht ist es aber noch nicht so nachhaltig, wie wir es gerne sehen würden. Daher überlegen wir, wie wir die Ausbildung am Standort noch besser unterstützen können.

Urs Kummer: Ausserdem beobachten wir eine Tendenz zu immer grösseren und komplexeren Tunneln. Diese Anlagen sind dann jeweils aussergewöhnlich und meist einzigartig. Wir können dann – wie beim Fehmarnbelt-Tunnel – frühzeitig bei der Gestaltung der Intervention mitdenken. Das müssen natürlich nicht immer Strassen- oder Bahntunnel sein. Die Einsatzkonzeption für einen Tunnel für Schiffe mitzudenken, wäre für uns natürlich auch eine sehr reizvolle Aufgabe.